Erwachsen zu sein klingt nach Kontrolle, Reife und Klarheit. Nach dem Punkt im Leben, an dem man weiß, wer man ist und wohin man geht. Doch wenn du ehrlich hinschaust, merkst du schnell, dass genau hier das Absurde beginnt. Du bist offiziell erwachsen, darfst Verträge unterschreiben, Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen, die dein ganzes Leben beeinflussen. Gleichzeitig steckst du dir völlig selbstverständlich Körperteile in den Mund, sei es beim Sex, beim Küssen oder bei ganz alltäglichen Gewohnheiten wie Nägelkauen oder Lippenbeißen, und findest daran nichts Merkwürdiges. Aber sobald es darum geht, über Gefühle zu sprechen, wird es kompliziert, peinlich oder sogar beängstigend.
Dieses Spannungsfeld ist kein Zufall. Es ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, unserer Erziehung und der Art, wie wir gelernt haben, mit Nähe, Intimität und innerer Wahrheit umzugehen. Der erwachsene Mensch wirkt nach außen souverän, doch innerlich bleibt oft ein Kind zurück, das nie gelernt hat, seine Emotionen klar zu benennen. Genau hier beginnt die Absurdität des Erwachsenseins, die du vielleicht jeden Tag spürst, ohne sie wirklich greifen zu können.
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ToggleWarum körperliche Intimität einfacher ist als emotionale Nähe
Körperliche Nähe ist sichtbar, messbar und kulturell längst normalisiert. Sex ist überall. In Werbung, Serien, Social Media und Gesprächen unter Freunden wird er oft beiläufig erwähnt. Du kannst mit jemandem schlafen, ohne seinen Lieblingssong zu kennen oder zu wissen, wovor er nachts Angst hat. Dein Körper darf sich öffnen, während dein Inneres verschlossen bleibt. Das wirkt paradox, ist aber für viele Erwachsene Realität.
Gefühle dagegen sind unscharf. Sie lassen sich nicht kontrollieren, nicht planen und nicht standardisieren. Wenn du über Gefühle sprichst, riskierst du Ablehnung, Unverständnis oder Verletzlichkeit. Dein Körper kann funktionieren, selbst wenn dein Inneres Chaos ist. Emotionen hingegen fordern dich heraus, ehrlich zu sein. Ehrlichkeit aber bedeutet Unsicherheit, und Unsicherheit widerspricht dem Bild des funktionierenden Erwachsenen.
Hier zeigt sich das Absurde besonders deutlich. Du darfst nackt sein, aber nicht emotional. Du darfst Lust zeigen, aber keine Angst. Du darfst begehren, aber nicht zweifeln. Erwachsensein bedeutet oft nicht, reifer zu sein, sondern besser zu funktionieren.
Sex als Sprache, die Gefühle ersetzt
Sex wird im Erwachsenenleben häufig zu einer Ersatzsprache. Dort, wo Worte fehlen, übernehmen Berührungen die Kommunikation. Das ist nicht grundsätzlich falsch oder schlecht. Körperliche Nähe kann heilsam sein, verbindend und tief. Problematisch wird es dann, wenn Sex benutzt wird, um etwas zu vermeiden. Wenn du spürst, dass du Nähe willst, aber nicht weißt, wie du sie emotional herstellen sollst, wird Sex zum Umweg.
Vielleicht kennst du das Gefühl, nach dem Sex neben jemandem zu liegen und dich trotzdem allein zu fühlen. Dein Körper war da, vielleicht sogar sehr präsent, doch dein Inneres blieb unberührt. In solchen Momenten zeigt sich, wie wenig Sex über echte Verbundenheit aussagt, wenn er nicht von emotionaler Offenheit begleitet wird.
Das Absurde daran ist, dass Sex gesellschaftlich oft als intimster Akt gilt, während das ehrliche Gespräch über Unsicherheiten, Bedürfnisse oder Ängste als zu viel empfunden wird. Du darfst jemanden sehen, schmecken und fühlen, aber nicht sagen, dass du ihn brauchst oder dass du Angst hast, verlassen zu werden.
Beziehungen zwischen Vermeidung und Gewohnheit
Viele erwachsene Beziehungen funktionieren nicht wegen tiefer emotionaler Verbindung, sondern wegen Gewohnheit. Man teilt den Alltag, das Bett und vielleicht auch den Sex, aber nicht das Innenleben. Gefühle werden verwaltet statt geteilt. Konflikte werden vertagt, bis sie sich entweder auflösen oder explodieren. Auch hier zeigt sich das absurde Erwachsensein, das mehr auf Stabilität als auf Wahrhaftigkeit setzt.
Du lernst früh, dass Beziehungen Arbeit sind. Was oft verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass diese Arbeit meist darin besteht, sich selbst zu regulieren, statt sich zu zeigen. Du lernst, dich anzupassen, zu funktionieren und Erwartungen zu erfüllen. Sex wird dabei manchmal zur Belohnung, manchmal zur Pflicht und manchmal zur Ablenkung. Selten aber bleibt er ein ehrlicher Ausdruck von Nähe, wenn Gefühle keinen Raum bekommen.
Arbeit als Flucht vor dir selbst
Nicht nur Sex dient als Ausflucht. Arbeit erfüllt im Erwachsenenleben eine ähnliche Funktion. Sie gibt Struktur, Identität und Rechtfertigung. Wenn du arbeitest, bist du beschäftigt. Wenn du beschäftigt bist, musst du dich nicht fühlen. Das klingt hart, trifft aber einen wunden Punkt. Arbeit wird zur Bühne, auf der du beweisen kannst, dass du wertvoll bist, ohne dich emotional öffnen zu müssen.
Viele Erwachsene definieren sich fast ausschließlich über ihre Leistung. Wer bist du, wenn du nicht arbeitest? Diese Frage macht Angst, weil sie Leere offenlegt. Arbeit füllt diese Leere scheinbar sinnvoll. Sie lenkt ab, sie fordert, sie belohnt. Gleichzeitig verhindert sie oft, dass du dich mit deinen inneren Themen beschäftigst. Gefühle werden auf später verschoben, auf den Urlaub, auf das Wochenende, auf irgendwann.
Das Absurde daran ist, dass du vielleicht erfolgreich, anerkannt und beschäftigt bist, aber innerlich erschöpft und unerfüllt. Du funktionierst hervorragend, während dein emotionales System unterversorgt bleibt. Erwachsensein wird so zu einem Dauerlauf, bei dem du vergisst, warum du überhaupt losgelaufen bist.
Sex und Arbeit als gesellschaftlich akzeptierte Betäubung
Sex und Arbeit haben etwas gemeinsam. Beide sind gesellschaftlich akzeptierte Formen der Betäubung. Niemand hinterfragt, wenn du viel arbeitest. Im Gegenteil, du wirst dafür bewundert. Niemand stellt infrage, wenn du viel Sex hast oder darüber sprichst. Es gilt als modern, offen und selbstbestimmt. Doch wenn du sagst, dass du dich leer fühlst, überfordert bist oder nicht weißt, was du brauchst, wird es still.
Gefühle passen schlecht in eine Welt, die auf Effizienz und Leistung ausgerichtet ist. Sie sind langsam, widersprüchlich und nicht produktiv. Deshalb lernen viele Erwachsene, sie zu verdrängen oder zu rationalisieren. Sex wird dann zu einem schnellen Dopamin-Kick, Arbeit zu einem Dauerzustand der Ablenkung. Beides hält dich beschäftigt, aber nicht verbunden.
Das Tabu der emotionalen Ehrlichkeit
Emotional ehrlich zu sein bedeutet, dich zu zeigen, ohne zu wissen, wie dein Gegenüber reagiert. Es bedeutet, Schwäche zuzulassen, ohne Garantie auf Verständnis. Genau das widerspricht vielen Prägungen des Erwachsenseins. Du sollst stark sein, unabhängig, kontrolliert. Gefühle gelten oft als privat oder sogar störend.
Dabei ist es absurd, dass gerade das, was uns menschlich macht, im Erwachsenenleben so wenig Raum bekommt. Kinder dürfen weinen, Erwachsene sollen sich zusammenreißen. Kinder dürfen Angst haben, Erwachsene sollen Lösungen präsentieren. Kinder dürfen Bedürfnisse äußern, Erwachsene sollen sie managen. In diesem Übergang geht etwas verloren, das sich später in Leere, Unzufriedenheit oder Beziehungsproblemen zeigt.
Wenn der Körper spricht, weil die Seele schweigt
Dein Körper ist oft ehrlicher als dein Kopf. Er reagiert, wenn du dich übergehst. Er wird müde, angespannt oder krank, wenn Gefühle keinen Ausdruck finden. Sexuelle Lust kann abnehmen, wenn emotionale Nähe fehlt. Arbeit kann dich ausbrennen, wenn sie nur Flucht ist. Das Absurde ist, dass viele Erwachsene diese Signale ignorieren, weil sie gelernt haben, durchzuhalten.
Der Körper wird benutzt, um zu funktionieren oder zu genießen, aber selten, um zuzuhören. Dabei wäre genau das ein Schlüssel zu einem weniger absurden Erwachsensein. Zu spüren, was wirklich da ist, statt es zu überdecken. Zu fühlen, was gefühlt werden will, statt es zu kompensieren.
Erwachsen sein neu denken
Vielleicht liegt die eigentliche Absurdität nicht darin, dass wir Körperteile in den Mund stecken und Gefühle vermeiden, sondern darin, dass wir das für normal halten. Erwachsen sein muss nicht bedeuten, sich selbst zu verlieren. Es könnte auch heißen, Verantwortung für das eigene Innenleben zu übernehmen. Gefühle nicht als Schwäche zu sehen, sondern als Informationsquelle.
Sex kann dann wieder das sein, was er im Kern ist. Eine Form von Verbindung, nicht von Flucht. Arbeit kann Sinn stiften, ohne dich zu verschlingen. Beziehungen können wachsen, wenn emotionale Ehrlichkeit erlaubt ist. Das alles beginnt mit der Bereitschaft, das Absurde zu erkennen und nicht länger als gegeben hinzunehmen.
Der Mut, stehen zu bleiben
In einer Welt, die ständig in Bewegung ist, ist stehen zu bleiben ein Akt des Widerstands. Zu fühlen, statt zu funktionieren. Zu sprechen, statt zu schweigen. Zu fragen, statt zu verdrängen. Das Erwachsensein verliert seinen absurden Charakter nicht über Nacht, aber es wird ehrlicher, wenn du beginnst, dich selbst ernst zu nehmen.
Vielleicht ist das die eigentliche Reife. Nicht alles im Griff zu haben, sondern dich selbst zuzulassen. Nicht perfekt zu funktionieren, sondern lebendig zu sein. Nicht Sex und Arbeit als Ausflucht zu nutzen, sondern als Teil eines Lebens, das auch Platz für Zweifel, Sehnsucht und Tiefe hat.
Erwachsen sein ist absurd, solange du versuchst, ein Bild zu erfüllen. Es wird menschlich, in dem Moment, in dem du beginnst, dich selbst zu fühlen und mitzuteilen. Und vielleicht ist genau das der Punkt, an dem Erwachsensein endlich aufhört, sich falsch anzufühlen.